Wer an Reading denkt, hat vielleicht Universitäten, englisches Kleinstadtleben oder das berühmte Reading Festival im Kopf. Doch in einem unscheinbaren Gebäudekomplex am Stadtrand, abgeschirmt von der Außenwelt, wächst etwas, das für die Zukunft der Schokolade überlebenswichtig ist: gesunde Kakaopflanzen.
Hier, im International Cocoa Quarantine Centre (ICQC,R) an der University of Reading, durchlaufen diese Pflanzen eine Art „Gesundheits-Check-up“. Wenn neue oder andere Sorten (Kreuzungen und neue Klone) angepflanzt werden sollen, sollte dieser Check-up gemacht werden, bevor sie überhaupt in die Nähe einer Anbaufläche in Ghana, der Côte d’Ivoire oder Ecuador gelangen.
Der Grund: Kakao ist extrem anfällig für Krankheiten, die ganze Anbauregionen betreffen können. Würden infizierte Pflanzen unkontrolliert in ein neues Anbaugebiet gelangen, könnten sie Infektionen mit pathogenen Keimen, Sporen oder Viren wie den Cocoa Swollen Shoot Virus (CSSV) oder den gefürchteten Witches Broom (Kakao-Hexenbesen) verbreiten – Krankheiten, die in manchen Regionen bereits Ernten stark beeinträchtigt haben.
Und so wird das ICQC,R zu einer Art „unsichtbarer Schutzmauer“ für die Schokoladen, die am Ende in europäischen Supermarktregalen liegen.

Abb. 1: Eintritt in ein Gewächshaus des Quarantänezentrums
Warum Quarantäne für Kakao?
Kakaobäume sind empfindlich – sie stammen ursprünglich aus den feuchtwarmen Regenwäldern Südamerikas und reagieren sehr sensibel auf Veränderungen ihrer Umwelt. Noch gefährlicher als Trockenheit oder Hitze sind aber Krankheiten, die sich wie ein Lauffeuer ausbreiten können.
Ein Beispiel: Der Cocoa Swollen Shoot Virus (CSSV), der in Westafrika sehr verbreitet ist, wird von Schildläusen übertragen und führt dazu, dass Kakaobäume geschwollene Triebe entwickeln, weniger Früchte tragen und schließlich absterben. Die Krankheit hat in Ghana zu Ernteverlusten von bis zu 50 % geführt. In der Côte d’Ivoire ist sie inzwischen in 11 der 13 kakaoproduzierenden Regionen verbreitet.
Ein anderes Beispiel ist die Witches Broom Krankheit, (Kakao-Hexenbesen-Krankheit), ausgelöst durch einen Pilz (Moniliophthora perniciosa). Sie befällt Triebe, Blätter und Blüten und verwandelt gesunde Pflanzenteile in bizarre, „besenartige“ Wucherungen und erzeugt missgebildete Früchte. In Brasilien hat diese Krankheit seit den 1990er Jahren die Produktion massiv einbrechen lassen – in manchen Regionen um bis zu 70 Prozent.
Solche Erreger sind regional unterschiedlich verbreitet. Würden sie aber unkontrolliert in neue Anbaugebiete eingeschleppt, könnten sie ganze Regionen unbrauchbar für den Kakaoanbau machen.
Genau hier setzt das International Cocoa Quarantine Centre in Reading an: Bevor Kakaopflanzmaterial – etwa Stecklinge oder junge Setzlinge – aus einem Land in ein anderes transportiert wird, müssen die Pflanzen zwei Jahre lang in Reading in Quarantäne bleiben und streng auf Krankheiten überprüft werden (ICQC,R).
Wer sich jetzt fragt, wie man zwei Jahre auf Stecklinge warten kann, wenn man eine andere Sorte anpflanzen möchte, den können wir beruhigen: Das ICQC,R hat die 300 meistgenutzten Kakaosorten in ihren Gewächshausern bereits in Pflege und verschickt auf Anfrage von Forschenden oder Kakao-Anbaugemeinschaften sogenannte „Grafts“. Das sind junge Triebe, die von der gewünschten Sorte geschnitten werden und als Pfröpfling bzw. Edelreiser versendet werden.
So wird sichergestellt, dass nur gesundes, sicheres Material in die Kakaoländer gelangt. Ohne diese Kontrolle wäre die weltweite Kakaoproduktion ungleich riskanter.

Abb. 2: Gesunde Kakaopflanzen im Quarantäne-Gewächshaus
Das Herz der Kakaosicherheit – das ICQC,R im Detail
Wer das International Cocoa Quarantine Centre in Reading besucht, steht zunächst vor unscheinbaren Gewächshäusern. Keine großen Schilder, keine touristische Attraktion – und doch ist dieser Ort einzigartig: Es ist die einzige aktive Einrichtung weltweit, die ausschließlich dafür zuständig ist, Kakaopflanzen unter Quarantäne zu halten und sicher für den internationalen Austausch vorzubereiten.
Wie funktioniert das?
Bevor Kakaopflanzmaterial – etwa Stecklinge von genetisch wichtigen Sorten – von einer Region in die andere transportiert werden darf, muss es hier zwei Jahre verbringen.
- In dieser Zeit werden die Pflanzen regelmäßig visuell kontrolliert: Forscher prüfen, ob sich Symptome von Krankheiten zeigen.
- Zusätzlich werden molekulare Tests durchgeführt, um Viren oder Pilze nachzuweisen, die äußerlich nicht sichtbar sind.
Nur wenn eine Pflanze am Ende dieses Prozesses als völlig gesund gilt, darf sie an Forschungsstationen oder Züchter in Ghana, Ecuador, Indonesien oder andere Kakaoregionen verschickt werden.
Warum in Reading?
Die University of Reading beschäftigt sich schon seit den frühen 1980er Jahren mit Kakaoforschung und baute darauf aufbauend 1985 das ICQC,R auf. Die Nähe zu wissenschaftlicher Expertise, sichere klimatisierte Gewächshausanlagen, die Lage fernab von natürlichen Kakao-Anbaugebieten, der Standort in einer gemäßigten Klimazone und strenge britische Quarantänegesetze machten Reading zum idealen Ausgangspunkt.
Globale Schaltzentrale
Das ICQC,R arbeitet eng mit internationalen Partnern zusammen. Viele Länder verfügen über Sammlungen von Kakaogenetik (sogenannte Keimplasma-Sammlungen). Damit diese Vielfalt weltweit genutzt werden kann – zum Beispiel, um Sorten mit höherem Ertrag oder besserer Krankheitsresistenz zu verbreiten – muss das Material den sicheren Weg über Reading nehmen. Ohne diese Station wäre der Austausch von Kakaopflanzen hochriskant.
Im Grunde ist Reading also eine Art „Tor zur Welt“ für den sicheren Kakaoaustausch: Jedes neue Pflanzmaterial, das ausgetauscht werden soll, geht durch diese Filterstation.

Abb. 3: Genaue Temperaturüberwachung im Klimawandel-Forschungs-Gewächshaus
Globales Netzwerk
Das International Cocoa Quarantine Centre in Reading ist zwar physisch ein paar Gewächshäuser in Südengland – inhaltlich aber ist es ein Knotenpunkt in einem weltweiten Netzwerk.
Verbindung zur International Cocoa Germplasm Database (ICGD)
Das ICQC,R ist eng verknüpft mit der International Cocoa Germplasm Database (ICGD). Diese Datenbank enthält Informationen zu Tausenden von Kakaogenotypen weltweit: Herkunft, genetische Eigenschaften, Resistenzmerkmale. Sie wird ebenfalls von der Universität Reading betreut und dient Forschern weltweit als Nachschlagewerk.
Durch diese Kombination – Quarantänezentrum plus Datenbank – entsteht eine globale Infrastruktur, die sicherstellt, dass:
- Pflanzenmaterial gesund ist, bevor es transportiert wird.
- Forscher Zugang zu genetischer Vielfalt haben, um neue, robustere Sorten zu entwickeln.

Abb. 4: Dr. Andrew Daymond präsentiert die Aufzucht gesunder Kakaopflanzen
Partner und Projekte
Das ICQC,R arbeitet im Auftrag und in enger Kooperation mit internationalen Institutionen und nationalen Forschungszentren in Produzentenländern. Es wird von der Cocoa Research Association (CRA), einem in Großbritannien ansässigen Branchenverband, finanziert.
So entsteht ein globales Sicherheitsnetz: Ein paar unscheinbare Gewächshäuser in Reading sorgt dafür, dass Landwirte in der Côte d’Ivoire, Ghana oder Ecuador auch morgen noch gesunde Pflanzen anbauen können – und wir Konsumentinnen und Konsumenten unsere Lieblingsschokolade genießen dürfen.
Forschung & Innovation
Das ICQC,R ist nicht nur eine Durchgangsstation für Kakaopflanzen – es ist auch ein Ort, an dem aktiv geforscht wird. Denn mit klassischen Prüfungen allein lässt sich der weltweite Kakaosektor nicht dauerhaft schützen.
Molekulare Diagnostik
Früher mussten Wissenschaftler oft warten, bis eine Pflanze sichtbare Krankheitssymptome zeigte. Heute setzen die Forscher in Reading zunehmend auf molekulare Tests, die Viren oder Pilze bereits im „versteckten“ Stadium aufspüren können.
Ein Beispiel: Für das gefährliche Cocoa Swollen Shoot Virus (CSSV) wurden in Reading und in Partnerlaboren spezielle DNA- und RNA-basierte Nachweismethoden entwickelt. Diese erlauben es, infiziertes Material schon vor dem Auftreten äußerlicher Symptome zu identifizieren.
Anpassung an den Klimawandel
Der In Reading werden daher Versuche durchgeführt, um zu verstehen, wie verschiedene Kakaogenotypen auf Stress reagieren – etwa auf Wassermangel und Hitze, aber auch auf erhöhte CO₂-Konzentrationen.
Das Ziel: Sorten identifizieren, die besser mit den schnell wechselnden Bedingungen durch den Klimawandel zurechtkommen, ohne dass Ertrag oder Qualität leiden.
Erhaltung genetischer Vielfalt
Eine weitere Aufgabe ist die Sicherung von Kakaogenetik für die Zukunft. Das ICQC,R arbeitet mit Methoden wie:
- Somatische Embryogenese: Vermehrung von Pflanzen durch Gewebekultur
- Molekulares Fingerprinting: Mit genetischen Markern lässt sich überprüfen, ob Pflanzen korrekt etikettiert sind – ein wichtiger Schritt, da falsch zugeordnete Sorten in Sammlungen ein ernsthaftes Problem darstellen.

Abb. 5: Ein gesunder Kakaobaum wird absichtlich mit Hitze bestrahlt, um die Auswirkungen verschiedener Temperaturen zu messen
Ein stiller Wächter der Schokolade
Das International Cocoa Quarantine Centre in Reading ist unscheinbar, aber unverzichtbar. Es bewahrt den weltweiten Kakaoanbau vor gefährlichen Krankheiten, sichert die genetische Vielfalt und ermöglicht den sicheren Austausch von Pflanzmaterial zwischen den großen Anbauregionen. Gemeinsam mit der International Cocoa Germplasm Database schafft es eine Infrastruktur, von der Kakao-Anbaugemeinschaften, Forschende sowie Konsumentinnen und Konsumenten gleichermaßen profitieren.
- Für den Anbau bedeutet das: gesunde Pflanzen, stabilere Ernten und bessere Perspektiven.
- Für die Forschung: Zugang zu genetischen Ressourcen, um Sorten für die Zukunft zu entwickeln.
- Und für uns alle: Schokolade, die auch morgen noch vielfältig, hochwertig und verfügbar bleibt.
So wird deutlich: Hinter jeder Tafel steckt nicht nur das Wissen und die Arbeit von Kakaobäuerinnen und -bauern in den Tropen, sondern auch der stille Schutz durch ein Quarantänezentrum im englischen Reading – ein globales Sicherheitsnetz für unsere süßeste Leidenschaft.
Bildquellen:
Abb.1 © :relations